Zur Einstimmung

Die Arbeit mit benachteiligten jungen Menschen ist stets mit Hoffnungen und Zielen untersetzt, möge unsere Zielgruppe Motivation, Selbstvertrauen und schließlich soziale Autorität finden. Wir stehen vor Herausforderungen auf mehreren Ebenen. Jugendlichen die Erfahrung zu ermöglichen, sich als planungs- und handlungsfähig erleben zu können, fordert unsere Bereitschaft zum Rückzug aus dem Mittelpunkt des Geschehens. Nicht um überflüssig zu werden sondern, um stets primär da zu sein für kleinere oder größere Modifikationen der Rahmenbedingungen: räumliche und materielle Ressourcen, Öffnungszeiten, Treffpunkte, Elternverständnis, Schlichtungen bis hin zu der vielleicht schwierigsten Herausforderung: für den Kontext, für die spezifische Zielgruppe maßgeschneiderte Spielregeln zu entwickeln und umzusetzen.

Wer meint, soziale und kulturelle Barrierefreiheit würde darum gehen, für die Zielgruppen die Türen zu den eigenen fachlichen Systemen und Herausforderungen zu öffnen (Mitbestimmung, Aufgabenteilung etc.), wird typisch eher ohnehin motivierte Jugendliche als Teilnehmergruppe feststellen können. Die Beteiligung von tendenziell demotivierten jungen Menschen setzt zwar eine offene Empfangskultur voraus, fordert aber vielmehr den Eingriff in Kontext und Person des Demotivierten. Eingriff möge sich für manche wie ein Übergriff anhören. Dabei kann ein Eingriff durchaus sein, eine aus den sozialen Gewohnheiten erwartete Handlung nicht auszuführen, statt Fülle ein Vakuum schaffen, statt Bestimmung Ungeklärtheit zuzulassen.

Ob als schuldistanzierter unangepasster Rowdy mit dem Hang zu „falschen Freunden“ oder als Mobbingopfer, psychisch angeschlagen oder bloß als Outsider, aus „der falschen“ sozialen Schicht, dem anderen Bundesland, einer anderen Muttersprache, beispielsweise die unbegreifliche Geschichte eines Geflüchteten: Es gibt oder es gibt nicht sichtbare, benennbare Konstellationen von Aggressor und Opfer, wenn man vor der Herausforderung steht, Ursachen für Demotivation zu verstehen, um eine Kehrtwende einzuleiten. Oft ist gar nichts zu sehen und zu erklären. Im rein individuellen Bereich werden sich scheinbar undefinierbare Szenarien aufgetan haben, die wir allzu gut kennen. Die einzelne Person ist „bevölkert“ und hat imaginär den Kürzeren gezogen, ist abgerutscht in Demotivation.

Leider wird an der Stelle die Arbeit mit diesen Zielgruppen zu spät mit psychosozialen Grundsätzen bereichert und der Ball zu früh an Spezialisten weitergereicht, an Therapeuten und Co.

Der lebensnotwendige mentale „sichere Ort“

Manche sprechen von Schutzräumen und vertreten somit meist die gleiche Haltung wie jene, die defizitäre Analogien vermeiden und explizit von jugendlicher Expertise und Koproduktion sprechen. Es geht um die Chance, die reichhaltigen Wirkungsvariablen der Mainstreammilieus als Bausteine für motivationsfördernde inklusive Settings zu nutzen.

Woran wird dann wirklich gearbeitet? Wie sehen die Eingriffe aus?

Wir stellen uns eine Jugendliche vor, und nennen sie Lucy. Wir wollen Lucy erreichen, ihr Vertrauen gewinnen. Uns weniger mit der „Nicht-Jetzt-Lucy“ beschäftigen, all das was es noch zu tun gäbe, und dafür mehr mit der realen Lucy, die „Hier-und-Jetzt-Lucy“, ihrem aktuellen Kontext.

Und wie sieht es bei Lucy aus? Ihr geht’s mehr oder weniger gut. Als sie gerade was erzählt wird sie vom sprachlichen Blackout getroffen und kann den Satz nicht zu Ende sprechen. Ich frage mich: was ist los mit Lucy? Ich stehe auf, hole die Teekanne und stolpere plötzlich über das Stuhlbein. Bei dem Versuch die Teekanne zu retten, finde ich meine Hand inmitten von Scherben und schneide mich. Der Schnitt wird zum Notfall, er muss genäht werden. Die Folge: Drei Wochen kein Laptop-Tippen.

Lucys Blackout, mein Unfall und Arbeitsausfall haben nur eines gemeinsam: Wir erfahren auf einmal welchen Bedingungen wir im „Jetzt“ ausgesetzt sind. Unsere Möglichkeit für Handlung im „Jetzt“ ist sofort und fortwährend immer wieder vorbei.

Die Auswirkungen des Phänomens der Zeit beweisen sich zwar nur in speziellen Situationen, wir greifen daneben, stolpern im Satz. Das Phänomen ist trotzdem permanent am Werk, und dies ist keine Krankheit und keine Benachteiligung. Es betrifft Lucys Peers, Freunde, Familie, aber auch fremde Menschen um sie herum und künftige Arbeitskollegen. Verschiedene Menschen, überall und zu jeder Zeit. Wir alle haben – abgesehen von den Situationen wo was schief geht – eine ganz „normale“, aber an sich ungeheuerliche Fähigkeit: nützliche Zusammenhänge herstellen zu können, anhand der gebotenen winzig kleinen Handlungs- und Denkfenster. Diese Fähigkeit wird als so selbstverständlich betrachtet, dass wir kaum darüber sprechen und kaum Bezeichnungen dafür haben. Zusammenhänge in den kurzen zeitlichen Intervallen sind nicht real da, sondern werden gedanklich gebildet. Wir nennen es Konzentration, Zuhören, Ideenreichtum, Achtsamkeit oder finden andere Begriffe dafür.

Unsere Zuversicht, dass es doch Zusammenhänge gibt, nährt sich aus der Wahrnehmung eigener Tätigkeiten sowie der Affirmation anderer Menschen. Und hier kommt die „Nicht-Jetzt-Lucy“ wieder ins Spiel. Allerdings ganz anders als vorher. Die bisherige „Nicht-Jetzt-Lucy“ war wie eine andere Person, ein Zukunfts- bzw. Vergangenheitsmodell von und für Lucy. In einem viel kleineren Maßstab braucht die reale „Hier-und-Jetzt-Lucy“ nun ihre „Nicht-Jetzt-Lucy“, damit sie überhaupt einen Bogen zwischen Mikromomenten spannen kann und einen Zusammenhang, ausgehend vom ständig kommenden und verschwindenden „Jetzt“, wahrnehmen kann.

Wenn ich also Lucy erreichen und ihr helfen will, soll ich mich weder nur an die „Nicht-Jetzt-Lucy“, die Vergangenheit und Zukunft abbildet, noch an die reale „Hier-und-Jetzt-Lucy“ wenden, sondern ich wende mich an eine dritte Lucy, die sich um die kontinuierlichen Allianzen zwischen „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“ kümmert. Diese dritte Lucy arbeitet an ihrem eigenen lebensnotwendigen mentalen „safe place“, zu Deutsch „sicherer Ort“.

Gedanklich pendeln zwischen „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“

Ein „sicherer Ort“ für Lucy kann nicht durch äußere Umstände hergestellt werden. Kein noch so fruchtbar scheinendes Setting, keine noch so geschützte Komm-Struktur kann dies garantieren. Wir wechseln deshalb unsere Perspektive und legen vorerst keine äußeren Rahmenbedingungen wie Räumlichkeiten, Tagesstrukturen und Betreuungsformen fest.

Dafür fragen wir uns nun, welche Eingriffe dazu führen, dass die Zielgruppen sich auf individueller Basis möglichst direkt mit der qualitativen Stärkung ihrer „sicheren Orte“ beschäftigen können.

Dies bedeutet: Herausforderungen für unsere Zielgruppe entwickeln! Diese Herausforderungen sollen ermöglichen, dass der einzelne Jugendliche sich freiwillig in kurzen Zeitintervallen hin und her zwischen der Wahrnehmung von „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“ orientiert. Diese Freiwilligkeit ist entscheidend. Und mehr noch:

Je spontaner und individueller dieses gedankliche Pendeln ablaufen kann - und wir reden hier von einem Pendeln in Mikrosekunden, einem schnellen Wechsel, wie das Blinzeln der Augen - desto bedarfsgerechter wird es auch. Wir haben es hier mit Vorgängen im Rahmen unserer mentalen Grundvoraussetzungen zu tun, welche wir als „Mikrorollenspiel“ bezeichnen können.

Also erst feste Rahmenbedingungen schaffen, damit die Beschäftigung mit dem „sicheren Ort“ anlaufen kann. Dann weg mit der Steuerung und hin zur Nutzung der Spontanität, dem Zufall, der Individualität und Vielfalt. Nach außen hin sind die Ergebnisse bei gelungenem Eingriff markant gesteigertes Selbstvertrauen, situative Klarheit und Sicherheit beim Jugendlichen.

Überspitzt formuliert reden wir von der fachlichen Haltung, dass es keinen Sinn macht, Vergangenheit und Zukunft für eine Person zu erforschen bzw. zu planen, wenn die Person keinen gut funktionierenden „sicheren Ort“ hat. Ist ein solcher wiederum bereits vorhanden, braucht die Person kaum Betreuung, sondern kann sehr unabhängig agieren.

In einer Zeit mit zunehmendem Druck auf junge Menschen, sich - nicht zuletzt mit Blick auf den zunehmenden Nachwuchsmangel - doch an ein Leben mit eigenem verdienten Geld anzupassen, entwickeln sich automatisch Gegenpositionen, die den fortwährenden Hilfebedarf belegen und diesen mit Forderungen von fachlichen Mindeststandards untersetzen. Zu kurz kommt im starken Kontrast zwischen diesen beiden Lagern die Diskussion zur Betreuungsflexibilität, zu Betreuungsformen, die sich auf die Phänomenologie der Motivationsbildung einlassen, hier exemplifiziert am Konzept des „sicheren Ortes“.

Eine Tugend wie Durchhaltevermögen wird bei Programmen und Maßnahmen weiterhin als Voraussetzung für die Teilnahme gesetzt. Aus der Arbeit mit „sicheren Orten“ heißt die Zielsetzung die Ermöglichung, dass die Zielgruppenperson zunächst Zusammenhänge – sprich Durchhaltevermögen – im Rahmen von wenigen Sekunden, Minuten oder wenigen Stunden, aber nicht von vollen Tagen oder sechsmonatiger Maßnahmenzeit für sich aktivieren kann. Gelingt dieser Mikroprozess regelmäßig ist damit die entscheidende Grundlage geschaffen, und die Skalierung auf Tagen, Wochen und Monate annähernd ein Selbstläufer.

Aneignung vom Konzept des „sicheren Ortes“ für den Mainstream

Die jahrelange Arbeit mit Gefangenen und mit vor Krieg und Vertreibung Geflüchteten im Vorläufernetzwerk des 2009 gegründeten Caiju e.V. machte das Konzept des „sicheren Ortes“ praktisch verstehbar. Eine Aneignung des Konzepts für den Mainstream lag auf der Hand, denn im Kern findet sich dieses Prinzip wieder in allen Fachbereichen. Folglich macht es Sinn, Betreuungssettings multidisziplinär und mit – gut überlegtem - Einbezug professioneller Akteure aus allen Sektoren zu gestalten. Analog zum Konzept des „sicheren Ortes“ wissen sie alle, jeweils in ihrem Spezialgebiet, was es heißt, konzentriert zu sein und Zusammenhänge herstellen zu können.

Die Betreuungshaltung bei Caiju bezieht sich auf das Konzept des „sicheren Ortes“ und baut in den Projekten methodisch darauf auf. Als sogenannte Blitzjobbees bei Caijus Projekt für Jugendjobben, als Projektentwickler:innen im Rahmen des von Caiju entworfenen Förderinstruments „Jugendprojektentwicklungsfonds“ oder als BeratungsSpieler:innen befinden sich die Jugendlichen stets als Rollenspieler:innen in der Wirklichkeit. Bei Blitzjobs ist die Verortung des Projekts in der Arbeitswelt nur Mittel zum Zweck, beim BeratungsSpiel die Idee des Schauspiels, beim Jugendprojektentwicklungsfonds Veränderungen durch Jugendliche im Kiez. Die realen Ergebnisse und Minikarrieren der Jugendlichen sind sozusagen Stellvertretungen für die Meilensteine im eigenen Biographieverständnis, Gedanken primär dort aktivieren zu können, wo sie auch zur Stärkung des individuellen „sicheren Ortes“ beitragen. Es wird dann für die Jugendlichen irrelevant, ob es ein Rollenspiel ist oder nicht, weil die Chancen der Vorgänge ergriffen und das Vorgehen mitgestaltet wird.

Dies steht ganz im Gegensatz zu Settings, wo Jugendliche ad hoc zu ihrer Zukunft oder Vergangenheit Fragen beantworten sollen wie z.B. „was interessiert dich“, „was willst du werden“, „welche Erfahrungen hast du schon gesammelt“ etc.

Eine Grundregel in der Arbeit mit traumatisierten Kriegsflüchtlingen heißt: Stelle nie direkte Fragen wie „was hast du erlebt“, „wie war es“ oder „wie geht es dir dabei“ etc., denn dann brechen die Dämme im „Hier-und-Jetzt“. Der Flashback schlägt zu und jeder mentale „sichere Ort“ wird von schlechten Erfahrungen überrollt.

In der Arbeit mit bspw. schulmüden Jugendlichen ist das Prinzip nicht anders, auch wenn die Auswirkungen viel milder sind.

„Sichere Orte“ und die fachliche Verantwortung, schätzen zu müssen

„Sichere Orte“ haben keinen sicheren Bestand! Der Zustand unserer Zielpersonen muss kontinuierlich von einer fachlichen Begleitung eingeschätzt werden. Eine entsprechende Optimierung bevorstehender Interventionen muss überlegt werden. Die fachliche Verantwortung ist hier immens. Auch deshalb, weil man tatsächlich einschätzen muss und nichts mit Sicherheit wissen kann. Es ist durch die Gefahr von Flashbacks nur sehr bedingt zielführend, den Jugendlichen selbst zu fragen.

Während dagegen die Frage „hast du Lust auf einen Blitzjob?“ keine Gefahr birgt. Fragen zur Person selbst müssen wiederum äußerst vorsichtig angegangen werden. Wir brauchen einen äußeren Mittler, einen äußeren Handlungsraum als „transitory Medium“ wie es der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott formulierte.

Die fachliche Verantwortung präzise einzuschätzen und entsprechend einzugreifen ist bei traumatisierten Kriegsflüchtlingen offensichtlich. Aber auch bei leichteren Fällen wie einer schulmüden Lucy kann die falsch eingeschätzte Betreuung zu einer Schrumpfung oder einem Zusammenbruch des „sicheren Ortes“ führen. Der unerträgliche Zustand, dem „Jetzt“ keinen Halt und eigene Sicherheit bieten zu können, lässt Lucy in Depression oder ähnliche Zustände fallen. Versucht sie mit der Brechstange Selbstvertrauen zu gewinnen, rutscht sie leicht in hyperaktive, gewaltorientierte bzw. autoaggressive Handlungsformen oder sie verschafft sich Pseudoformen des „sicheren Ortes“ durch Drogen.

Spätestens dann ist Lucy mit dem permanenten Augenblick voll beschäftigt - alles auf einmal oder sich immer außerhalb vom „Jetzt“ fühlend, versteckt und unerkennbar für sich selber. Fragen zum Berufsweg oder einer Qualifizierung haben dann wenig mit ihrer Wirklichkeit zu tun.

Wir müssen Eingriffe mit Rahmenbedingungen entwerfen, in denen Lucy in ihrer konkreten Lage teilnehmen kann. Möglichkeiten schaffen, in welchen sie für sich wirksam, etwas geben und nehmen kann. Entscheidend dabei ist, dass sie die Wahrnehmung hat, fair behandelt zu werden. Ansonsten sieht sie sich wieder bedroht und wird mental oder physisch aussteigen.

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